WS 1999/2000
Bei: Institut für angewandte Kulturwissenschaft
Studienbaustein 8: Kulturwissenschaft
Kultur - Zur Problem- und Definitionsgeschichte eines karrierereichen Konzepts

Von: Harald Klinke

Empfohlene Zitierweise:
Klinke, Harald: Kulturbegriff heute. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 2000, , abgerufen:


Kulturbegriff heute:
Clifford Geertz: Dichte Beschreibung
Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme


Inhalt

1 Einleitung

2 Geertz’ Kulturbegriff

3 Kulturwissenschaften

4 Interpretative Kulturanthropologie

5 Anwendung des Kulturbegriffes

6 Resümee

7 Bibliographie


1. Einleitung

Auf die Frage "Was ist Kultur?" wurde zu allen Zeiten unterschiedliche Antworten gefunden. Einer dieser Kulturbegriffe stammt aus der Ethnologie und wird von Clifford Geertz vertreten. Im folgenden soll seine Position anhand des Textes "Dichte Beschreibung" genauer untersucht und Anhaltspunkte ver­deutlicht werden, die uns seinen Kulturbegriff näher bringen. Dieser soll darüber hinaus auf seine Anwendbarkeit auf kulturelle Phänomene in unserer Gesellschaft hin untersucht werden.

2. Geertz’ Kulturbegriff

Sein 1983 auf deutsch erschienenen Buch "Dichte Beschreibung, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme", beginnt der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz damit, darauf hinzuweisen, daß der Kulturbegriff einem steten Wandel unterlag. Tatsächlich unterschieden sich die Vorstellungen der Aufklärer Rousseau und Diderot von denen Herders und Kants zum Teil erheblich. Verschiedene Ansätze, wie die des Klassizismus und Idealismus, konnten viele Anhänger finden, wurden dann aber von den Ideen Nietzsches oder Spenglers abgelöst, aber bis in die heutige Zeit diskutiert.

Geertz weist darauf hin, daß sich um den Kulturbegriff herum das Fach Ethnologie gebildet habe, das sich der Kultur nunmehr widmen würde. Geertz geht von Anfang an also von einem ethnologischen Kulturbegriff aus. Das bedeutet, daß Kulturen, die einem fremd sind, beobachtet, gedeutet und verstanden werden sollen. Für ihn steht außer Frage, ob diese Methode auch auf unsere Kultur übertragen werden kann, in der wir leben, die uns bekannt erscheint, wenn sie auch nicht verstanden wird.

Geertz scheint von seiner Stoßrichtung her ethnologisch zu denken, sein Publikum, das er mit dem Buch zu erreichen gedenkt, ist eines der Ethnologen und nicht der Kultur­wissen­schaftler, die sich (von ihm nicht explizit erwähnt) ebenfalls mit Kultur und dem Kulturbegriff auseinandersetzten. Ist bei Geertz von Kultur die Rede, sollte also nicht en passant der Übertragungsschluß auf unsere Kultur gefolgert werden, den er nicht unbedingt meint. Dieser Schluß ist im folgenden trotzdem zu untersuchen und festzustellen, in wie weit er verallgemeinerbar und sinnvoll ist.

Traditionell untersucht die Ethnologie und die Ethnographie sogenannte Stammes­ge­sell­schaften, d.h. außereuropäische, schriftlose Völker. Heute werden vor allem in den USA ihre Methoden auch auf unsere industrielle Gesellschaft angewandt. Formal ergibt sich daraus ein erstes Problem, das im folgenden nicht aus den Augen gelassen werden sollte: Während der klassische Ethnologe als Beobachter in eine fremde Welt reist, um sie zu erforschen, bleibt ihm stets ein gewisser Abstand und eine Fremdheit, die ihn zu objektiven, sachlichen Ergebnissen führen, da er unbefangen sich dieser Kultur nähert.

Werden dieselben Methoden auf die eigene Kultur angewandt, ist der Beobachter Teil des Beobachteten. Dies macht ihn zum Subjekt und erschwert somit eine wissenschaftlich un­interessierte (d.h. keine eigenen Interessen verfolgende) Forschung. In der Soziologie, die sich mit der der Kultur enganliegenden Gesellschaft befasst, wird dies "distanziertes Beobachterverhalten" genannt. Sie problem­atisiert ebenfalls die zum Verständnis der Zusammen­hänge notwendige "Teil­nehmer­haltung". Die qualitativen oder rekonstruktiven Verfahren der empirischen Sozialforschung lösen das Problem durch elektromagnetische Aufzeichnungen eines Kommunikationsverlaufs oder einer Beschreibung bzw. Erzählung von diesem. Die Textförmigkeit gewinnt dabei besondere Bedeutung, da sie eine objektivierende Rekonstruktion der Interaktions- und Erlebnisprozesse vollzieht.

Ähnliches fordert Geertz für die Ethnologie. Seine Form der "dichten Beschreibung" erfordert zwei Elemente:

1. Eine genaue Beobachtung und Be­schreibung sowie

2. Eine Deutung.

Denn, wie er schreibt, sieht er den Menschen als ein Wesen, das mit Kultur verwoben ist, die er ein "selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe" nennt. Er erklärt weiter, daß dessen Unter­suchung keine experimentelle Wissenschaft sei, die nach Gesetzen suchte, sondern eben nach Bedeutung. Damit grenzt er sich ab, wie wir weiter unten genauer sehen werden, von einer analytischen Richtung der Ethnologie.

August Comte strebte zu Beginn des 19. Jahrhunderts danach, die Soziologie, nach dem Vorbild der hochgeschätzten Natur­wissen­schaften, zu einer Disziplin zu machen, die sich empirisch mit dem Zusammen­leben der Menschen, mit der erfahrbaren sozialen Wirklichkeit befassen sollte. Demnach wurde versucht, allgemeine Gesetzesmäßigkeiten zu finden, mit deren Hilfe eine stabile und moderne Neuordnung der Gesellschaft auf­ge­baut werden könnte. Ursprünglich wollte Comte für sein natur­wissen­schaftlich orientiertes Programm einer positiven Soziologie den Namen "physique sociale" verwenden. Dem stellt sich Geertz vehement entgegen. Die Ethnologie ist "keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutung sucht". Die Arbeit des Ethno­graphen, die Geertz "die besondere geistige Anstrengung" nennt, oder "das komplizierte intellektuelle Wagnis der ‘dichten Be­schreibung’" ist es nicht, nach quasi-mechanischen Strukturen zu forschen, sondern nach Bedeutung von Verhalten. Geertz plädiert für eine Abkehr von der Orientierung der Anthro­pologie am naturwissenschaftlichen Positivis­mus.

Von Gilbert Ryle übernimmt er das Beispiel der schnellen Lidbewegung, die erst durch Deutung zu einer Zuckung, einem Zwinkern, zu einer Parodie oder Vortäuschung eines Zwinkerns wird. Der Ethnograph muß, um richtig deuten zu können, aber den "öffentliche Code", der eine Bewegung zu einem Zeichen macht, kennen. Geertz fasst zusammen: "ein bißchen Verhalten, ein wenig Kultur und - voilà - eine Gebärde". Lösen wir die Gleichung "Verhalten plus Kultur gleich Gebärde" nach "Kultur" auf, so steht uns eine simple Kulturdefinition vor Augen:

 

Kultur = Gebärde - Verhalten

 

Diese Auflösung scheint auf den ersten Blick wenig Sinn zu machen, die Gleichung ist offenbar nur in eine Richtung sinnvoll. Gemeint ist demnach aber, daß Kultur der "öffentliche Code" ist, der phänomenologischen Äußerung der Menschen in einen Sinn­zusammen­hang bringt, den man den kulturellen Kontext nennen könnte. Mit diesem scharf umrissenen ethno­logischen Kulturbegriff setzt sich Geertz ab von den verwaschenen unscharfen Kultur­be­griffen früherer Kulturphilosophen. Für seine ethnologischen Zwecke ist dieser Begriff auch durchaus praktikabel. Übernimmt man diese Formel in die Kulturwissenschaften, so er­scheinen einem alle menschlichen Äußerungen als kulturell; als Phänomene, die in ihrem Zusammen­hang Bedeutung erhalten. So wird aus Tonerzeugung Musik, aus Farbauftrag Malerei, aus Filmproduktionen möglicherweise Fernsehwerbung und vielleicht auch aus Essen mit Messer und Gabel eine bedeutungsvolle Handlung.

Sicher gibt es dem Handeln jedoch keinen Sinn und schon gar nicht eine Erklärung. Es sagt nichts über die kausalen Zusammen­hänge aus, die zu den beobachteten sozialen Phänomenen führen. Es besagt also erst mal nichts darüber, wie etwas funktioniert. Eine rote Ampel bedeutet "Stehenbleiben", weil sich gesellschaftlich darauf ge­einigt wurde. Das Feld der Erforschung der Ursachen dieses Konsenses (Ampeln wurden beispiels­weise notwendig, durch höheres Verkehrs­auf­kommen, verursacht durch die Erfindung des Automobils und der damit verbundenen Ge­schwindig­keits­erhöhung, sowie der Massen­produktion, die das Auto zu einem Volksgut werden ließ, das den Individualverkehr förderte) überläßt Geertz offenbar der Soziologie und benachbarter Disziplinen. Geertz stört diese aber nicht, da er an die Ethnologie denkt, der vergleichenden Völkerkunde, die die in der Ethnographie gewonnen Daten zu Theorien verarbeitet, die über die Grundlagen und die Entwicklung der menschlichen Kulturen Aufschluß geben sollen. Dafür scheint der Ansatz auszureichen. Für eine Betrachtung der eigenen Kultur möchte man darüber hinaus eine Klärung der gesellschaftlichen Zusammen­hänge. Dafür steht die Soziologie bereit. Geertz steckt somit die Aufgabenfelder beider Disziplinen klar ab. Deutlich wird dadurch auch die Bedeutung der Begriffe "Gesellschaft" und "Kultur" voneinander abgegrenzt. Zugleich ist es eine Heraus­forderung zur Interdisziplinarität.

Ist die Kulturwissenschaft, die Geertz vermutlich nicht prioritär im Sinn hatte, dann letztendlich Ethnologie? Schauen wir uns dazu erst mal das Programm der Kultur­wissen­schaften genauer an und vergleichen dies mit einem praktischen Beispiel von Geertz, dann wird uns klarer, in wie weit der Kulturbegriff des Ethnologie auf die Kulturwissenschaften übertragbar ist.

3. Kulturwissenschaften

Kulturwissenschaft als Studienfach existiert in Deutschland erst seit Mitte der achtziger Jahre nach dem Leitsatz "Der Anspruch der Kultur­wissen­schaft ist die Internationalisierung und die Modernisierung der ‘Geistes­wissen­schaften’". Denn es wurde befürchtet, daß die Geisteswissenschaften durch den Erfolg und die Geschwindigkeit des Natur­wissen­schaften an Bedeutung verlieren würden. Andererseits hatte sich in anderen Ländern eine Konzeption von Kultur­wissen­schaften entwickelt, die nicht nur retrospektiv, sondern auch innovativ, vorausschauend und vor allem interdisziplinär arbeiten sollte.

Dazu gehören folgende Ansätze: die Völker­psychologie, die Kultur­geschichts­schreibung, die Theorie symbolischer Formen, die Psychoanalyse als Kulturtheorie, die kritische Theorie und die Kultur­philosophie. Letztere versucht ein veraltetes Kultur­verständnis zu überwinden und neue Methoden der Heran­gehens­weise zu finden. So soll "gegenüber der deduktiven Logik der Naturwissenschaften die eigensinnige Logik des kulturellen Lebens" untersucht werden, jedoch nicht mehr nur rein deskriptiv, sondern sich "selbst als kulturelle Praxis" verstehend.

4. Interpretative Kulturanthropologie

Darunter fällt auch die Ethnologie Geertz’. Mehr als aus der oben vorgestellten theoretischen Einleitung seines Buches, läßt sich an den Kapiteln der oft zitierten praktischen Be­schreibung über den "Balinesischen Hahnen­kampf" herauslesen, was Geertz tatsächlich meint: Gesellschaften sollen als Texte gelesen werden, die ihre eigene Interpretation in sich tragen. Hahnenkämpfe sind öffentlich aus­ge­tragene Schauspiele mit intensiver Publikums­beteiligung, anhand derer er einen wichtigen Aspekt der balinesischen Kultur darstellt. Das Austragen der beschriebenen Hahnenkämpfe sind Metaphern für reale gesellschaftliche Zusammen­hänge, die sich vielfach in diesem Sport ausdrücken. Es sagt also etwas darüber aus, was ein beobachtete soziales Phänomen bedeutet. Es ist ein Mittel "etwas von etwas auszusagen". Er schreibt: "So sieht man sich nicht einem Problem der gesellschaftlichen Mechanik, sondern der gesellschaftlichen Se­mantik gegenüber". Kultur ist zu verstehen als ein Prozeß fortschreitender reflexiver Sem­antisier­ung und insofern eine Montage oder ein Ensemble von Texten, "aus sozialem Material geschaffene Phantasiebildungen", die das reale Sozial­gefüge, den kollektiven Text, abbilden, also Metainformationen über die Kultur, ein System symbolischer Bedeutungen, die sich in semiotisch vermittelten Darstellungsformen äußern. Soziales Verhalten wird in enger Verknüpfung mit kultureller Selbstauslegung gesehen. Die Kultur ist demnach jedoch nicht nur abbildend, sondern viel mehr für die "Hervorbringung und Erhaltung [von] Empfindungen konstitutiv".

5. Anwendung des Kulturbegriffes

Übersetzt auf die hiesige Alltagskultur hieße das, daß das Mitfiebern bei einem Fußballspiel, das Freuen über einen Sieg und die Niedergeschlagenheit bei einer Niederlage, genauso wie das Nachempfinden von Liebe, Sehnsucht, Tod und Trauer bei einer Aufführung von Romeo und Julia nicht nur vorhandene Gefühle aufleben läßt, sondern diese vielmehr durch die Hineinversetzung des Zuschauers in den (Schau-)spieler im wahren Leben erst oder stärker empfunden werden. In Analogie zum Hahnenkampf zeigen uns unsere Stadien und Bühnen eine Welt, wie sie grade nicht ist, um Empfindlichkeiten in bestimmten zukünftigen Situationen vorzubereiten und durch Identifikationen innerlich zu erlernen. Bei der Rezeption ist also eine kognitive Leistung zu vollbringen (das selbe gilt natürlich auch für die Rolle der Musik und anderen Künsten).

Tatsächlich wurde versucht Geertz’ Methoden auf die eigene Kultur anzuwenden. Beispiels­weise schreibt Sabine Helmers in ihrem Artikel über die High-Tech-Welt der Datennetze und Computer. Ihrem Text stellt sie die Feststellung vorweg: "Dichte Beschreibung ist für jede Kultur möglich". Unglücklicherweise versucht sie Parallelen zwischen Hähnen und "Techno-Hähnen" allzu zwanghaft zu finden, mit dem Blick eines Außenstehenden werden Fachtermini der Szene unverstanden in Anführungsstrichen wiedergegeben und Klischees zur Basis von Theorien heran­ge­zogen.

Manfred Ressco dagegen beschreibt, sich deutlich auf Geertz beziehend, die "modernen Wilden"; Subkulturen, wie Punks, Skins und Hooligans. Er möchte "ein semiotisches Auge" auf sie richten und sieht deren Kleidung als "Instrument der Selbstinterpretation, er Gruppen­zugehörigkeit und der Distinktion zu anderen Gruppen". Diese Hypothese versucht er anschließend zu explizieren bzw. Mit Beispielen argumentativ zu festigen. So rekurriert er beispiels­weise mit Hilfe der Soziologie und der Psychologie über soziale Herkunft und eine semiotische Analyse des Erscheinungsbildes der Skins, das mit der Vermutung schließt, daß "das Problem der Skins [...] die Kontrolle und das Nichtspüren der eigenen Körpergrenzen" sei.

Die weiter oben beschriebene Dichotomie von "dünner Beschreibung" des reinen Verhaltens, also eine phänomenologischen Wahrnehmung, z.B. einer Lidbewegung, und "dichter Beschreibung" von miteinander verwobenen Meinungen über Bedeutung (z.B. das Zuzwinkern), ist mehr als nur eine erkenntnis­theoretische Idee Geertz’. Dichte Beschreibung ist nicht nur eine Daten­sammlung, sondern das Vortragen der Interpretation der Gesellschaft durch den Ethnographen, das Vorlesen von Manuskripten, geschrieben aus geformtem Verhalten. Diese Dokumente, die für Geertz die Kultur darstellen, sind öffentlich und der Ethnologe (oder wenn wir nun wollen, der Kulturwissenschaftler) "bemüht sich, sie über die Schulter derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen". Kultur ist ein Kontext, in dem gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltens­weisen, Institutionen oder Prozesse, verständlich beschreibbar sind. "Die Unter­suchung von Kultur besteht darin [...], Vermutungen über Bedeutungen anzustellen", diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen.

Geertz meint, daß Ethnologie keine all­gemeinen Aussagen anstrebe, die sich auf verschiedene Fälle beziehe, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzel­falles vornimmt. Genauer: Es werden keine Schlußfolgerungen aus einer Reihe von Beobachtungen gezogen, die auf ein allgemeines Gesetz abzielen, wissenschafts­theoretisch gesprochen: nicht induktiv vorgegangen, sondern einzelne symbolische Handlungen in einen verständlichen Zu­sammen­hang gebracht. Somit kann seine Kultur­wissenschaft auch keine Zukunfts­prognosen abgeben. Es geht ihm darum, für das vorliegende Material Inter­pretationen zu liefern, um beim Auftauchen neuer sozialer Phänomene Theorien liefern zu können, also ein deduktives Vorgehen.

Sein Verständnis vom Fortschritt der Wissen­schaft beschreibt er folgendermaßen:

"Grade ihre eindrucksvollsten Erklärungen stehen auf unsicherem Grund, und der Versuch, mit dem vorhandenen Material weiter zu gelangen, führt nur dazu, daß der [...] Verdacht, man habe es nicht recht im Griff, immer stärker wird. Das aber [...] kennzeichnet einen Ethnographen"

Denn dann löst ein besserer Erklärungsversuch den vorherigen ab und entwickelt das Theoriegerüst weiter. Somit wendet er sich gegen die Vorstellung, eine positivistischen Wissenschaft zu versuchen, sieht sich jedoch nicht als einen Relativisten, sondern als einen Anti-Antirelativisten. Ihm wird häufig vorgeworfen, daß das Beobachten der immanenten Logik fremder Symbol­systeme das Problem einer Projektion eigener Leitbilder auf fremde Lebenswelten mit sich bringt. Zwar ist die Fremdbetrachtung Quelle vieler Erkenntnis, die befürchteten Vermischungen und Projektionen aber Ursache von Fehldeutungen (wie es auch die Schwierigkeit des teil­nehmenden Beobachters immer ist) und Instrumentalisierungen. Dies ist die Hauptkritik an Geertz: Er stünde mit seiner Autorität als Interpret dem Geschehen mit einem souveränen Deutungsprivileg gegenüber und die Datenquelle zur Erschließung exotischer Völker sind.

Genau diese Gefahr besteht bei der Beobachtung der eigenen Kultur aber nicht, denn es handelt sich um eigene Symbolsysteme und die Projektion eigener Leitbilder auf eigene Lebenswelten. Diese Tautologie macht wiederum einen großen Erkenntnisfortschritt in der Spiegelbetrachtung unwahrscheinlich. Sinnvoller wäre eine Kulturkomparatistik, die die Ergebnisse von Betrachtungen eigener und fremder Kulturen gegenüberstellt und die Vorteile beider Betrachtungsweisen vereint. Denn man erfährt wohl nicht mehr über die eigene Kultur, als durch das Studium einer anderen.

6. Resümee

Clifford Geertz versucht nicht eine Ver­natur­wissen­schaftlich­ung der Geistes- bzw. Kultur­wissen­schaften, sondern findet einen neuen, dem Untersuchungsobjekt adäquaten Ansatz: Sein Kulturbegriff ist ein semiotischer.

Insofern kann man von Geertz lernen, das Themen wie Macht, Veränderung, Glaube, Unterdrückung, Arbeit, Leidenschaft, Autorität, Schönheit, Gewalt, Liebe und Prestige (oder auch Tod, Männlichkeit, Wut, Stolz, Verlust, Gnade und Glück) in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise durch die Kultur repräsentiert wird und uns über ihre Bedeutung in der jeweiligen Gesellschaft Auskunft gibt. Der Vergleich des unterschiedlichen kulturellen Ausdrucks würde uns Aufschluß über die Vorstellungen über solche abstrakte Ideen geben, die die Basis jeglichen Handelns sind.

Bei all dem sollte auch nicht vergessen werden, daß dieser Kulturbegriff die Kulturwissenschaft selbst als Teil des vom Menschen selbst­geschaffenen Bedeutungsgewebes versteht. Somit ist das Nachdenken über Kultur auch ein selbstreflexiver Akt.

 

7. Bibliographie (klick)

Weitere Literatur zu Clifford Geertz

Dieser Text ist auch verfügbar in der Digitalen Bibliothek des Interkulturellen Portals.
© H. Klinke 2002


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