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Klinke, Harald: Jeff Wall. Inszenierte Photographie, 2000, , abgerufen:

 

Jeff Wall
Inszenierte Photographie

Inhalt

1 Einleitung

2 Vorrede

3 Der theatralische Charakter

4 Der malerische Charakter

5 Der narrative Charakter

6 Der filmische Charakter

7 Schlußresümee

8 Bibliographie


1. Einleitung

Steht der Wissenschaftler einem Phänomen gegenüber, das ihn in seiner Unfassbarkeit zu überwältigen scheint, so ist es ihm ein innerer Drang das Erfahrene zu kategorisieren, in der Hoffnung, es so in kleineren Sinn­zusammen­hängen begreifbarer zu machen. Daher soll im folgenden die Kunst Jeff Walls, die Kunstkenner und Kunsthistoriker gleichermaßen begeistert, in vier Bereiche unterteilt werden, um den theatralischen, malerischen, narrativen und filmischen Charakter seiner Fotografien separat vor Augen führen zu können.

Zweifellos sind die Grenzen dazwischen unscharf. Das Ziel soll daher sein, die zentrale Frage zu beantworten, auf die jeder aufmerksame Betrachter früher oder später stößt: "Wie wirklich ist die vorgestellte Wahrheit in Jeff Walls Bildern?"

2. Vorrede

War man in den Anfangszeit der Fotografie mit Fox Talbot der Meinung, Fotografie sei der Zeichenstift der Natur, der das Flüchtigste, was es gibt, nämlich den Schatten festhalten kann, so meinte Charles Baudelaire ins Negative gewendet, das Foto sei nur banale Ablichtung. Er forderte, daß Künstler Maler des modernen Lebens sein sollten, mit dem Blick auf zeitgenössische Genres wie Fabriken, Stadtland­schaften, arme und reiche Menschen usw. Diese Idee wurde von Malern wie Manet im 19. Jahrhundert aufgenommen und vielfach verarbeitet. Jeff Wall knüpfte daran an, aber versucht mit vielfachen Mitteln die Fotografie als legitimes künstlerisches Ausdrucksmittel aufzuwerten.

Jeff Wall stammt aus Vancouver, hat dort und in London Kunstgeschichte studiert, in den 70er Jahren der Fotografie zugewandt und ist heute in Vancouver Professor an der Kunstakademie. Dies ist wichtig für das Verständnis seiner Bilder. Denn sein Wissen um die Geschichte der Kunst und seine Bezugnahme darauf, ist ihm dabei hilfreich, Baudelaires Forderung folgend, zeitgenössische Alltagsthemen mit dem modernen Medium, jetzt der Fotografie, auszudrücken und dabei das Foto zu einem künstlerischen Medium aufzuwerten.

So ist es folgerichtig, daß er seine Bilder auch in einer adäquaten Art und Weise präsentiert. Es handelt es sich bei fast allen Arbeiten um Cibachrom-Diapositive, die von hinten mit fluoreszierendem Licht beleuchtet und in Schaukästen montiert sind. Meist sind sie 2x3 Meter groß, manchmal sogar größer. Die Größe spielt dabei eine wichtige Rolle! Darauf soll später noch einmal zurück gekommen werden. Diese von der Außenwerbung übernommene Bildpräsentation in Lichtkästen bedeutet, daß das Licht bzw. das Bild heraus, also einem entgegen kommt. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Betrachters geweckt, der durch die Leuchtkraft und Größe des Dargestellten sich in das Bild hineingezogen fühlt.

3. Der theatralische Charakter

Anfangs erzeugte Wall durch Unschärfe des Hintergrundes, Bewegungs­verwischungen und Grobkörnigkeit des Bildes den Eindruck eines vergrößerten Schnappschusses, der offenbar einen Augenblick einzufangen scheint, der zufällig aufgenommen wurde. Bei genauerer Betrachtung fällt einem aber auf, daß die scheinbare Zufälligkeit des dargestellten Ereignisses das Ergebnis sorgfältiger Inszenierung und ein vom Künstler erwünschter Effekt ist. In Wahrheit ist die Szene gestellt, bzw. nachgestellt ist, Zufälligkeiten wurden sogar möglichst ausgeschlossen wurden, in dem alle Details hindrapiert wurden und erscheinen wie Bühnenhintergründe, Requisiten oder angewiesene Schauspieler. Jeff Wall arbeitet also ähnlich wie ein Theaterregisseur. Damit haben die Aufnahmen eine Nähe zum Theater, zur Bühne und Inszenierung. Dieser Eindruck wird später zusätzlich durch kürzeste Belichtungszeiten und extreme Tiefenschärfe erzeugt, die jede Struktur und Materialität genau abbildet.


Zum Beispiel zeigt Insomnia (1994) einen bühnenhaften Innenraum mit einem kleinen Fenster mit Blick auf eine Bretterwand. Es ist also ein geschlossenes Ensemble ohne Sicht in einen anderen Raum oder eine Landschaft. Die Möbel und der Linolboden weisen auf eine ärmliche Küche hin, die Gegenstände wirken wie durch Benutzung zufällig plaziert, nur die unter dem Tisch liegende, den Betrachter anschauende Person erscheint merkwürdig deplaziert, in einer rätselhaft anmutenden Körperhaltung. Im ganzen wirkt es wie ein Standbild, das einen Augenblick einer Handlung festhält, die im nächsten Moment weiterzulaufen scheint.

Die Personen haben den toten Blick der realistischen Menschen-Skulpturen von Duane Hanson, die wirken, wie versteinerte Abbilder ihrer Selbst, skulpturenhaft in der Bewegung erstarrt. Hier kann auf den Film L’année dernier à Marienbad von Alain Resnais (1961) verwiesen werden, bei dem am Anfang Statuen auf der Bühne wieder zu Menschen werden, in dem sie sich bewegen. Jeff Walls Bilder wirken ebenso wie in einem angehaltenen Film, der bei nochmaligem Drücken der Play-Taste sich wieder in Bewegung setzen würde. Jeff Wall geht aber durch die Inszenierung des Bildes zweifellos darüber hinaus.

4. Der malerische Charakter

Wie beschrieben, sind die Bilder keine Schnappschüsse, wie sie auf den ersten Blick wirken, sondern Arrangements. Der studierte Kunsthistoriker, der Jeff Wall ist, macht sich sein Wissen um Konstruktion und Ästhetik zunutze, er wählt bewußt Farben, Perspektive, Proportion und Komposition. Es ist ein Bild vollkommen vom Künstler erfunden, es ist Fiktion, eine Vorstellung, durch den Willen und unter der Kontrolle des Künstlers entstanden. Es bringt damit den Künstler wieder ins Werk, was bei der Vorstellung von Fotografie als indexikalische, also rein mechanisch, Abbildung der Realität verloren ging. Es ist weder Wirklichkeit, noch Abbild der Wirklichkeit, sondern ein fotografisches Kunstwerk, auf dem sich ein Drama abspielt, ein Eindruck, der durch die gestellten requisitenhaften Objekte verstärkt wird.

Die bewußte Komposition irritiert die Glaubwürdigkeit des fotografierten Bildes und rückt es somit näher an die Malerei heran. Jeff Wall versucht sein Werk als Gegenstück zur Malerei zu definiert, aber auch als etwas, was weder Malerei noch Fotografie ist.

Ähnlich wie Thomas Ruff und andere, will Jeff Wall trotz des modernen Mediums Fotografie, sich der Malerei nähern und ein Gefühl von "Altmeisterlichkeit" durch gemäldeartige Großformatigkeit erzeugen, das die Wand füllt, vor dem man steht und in dem Bild verschwindet, quasi "im" Bild ist. Es fordert damit die gleiche Aufmerksamkeit vom Betrachter wie ein Gemälde, der damit mehr Zeit aufbringen muß und beim Betrachten Teil der dargestellten Story wird.

Wie bereits angedeutet, bezieht sich Jeff Wall sehr oft zurück auf Ideen und Malerei des 19. Jahrhunderts, besonders auf Manet, als versucht wurde modern zu arbeiten, zeitgenössische Bildinhalte und Themen mit zeitgenössischen Techniken auszudrücken. Wall versucht mit heutigen Mitteln alte Themen darzustellen.


Besonders die Auseinandersetzug mit den Bilden Manets scheinen ihn inspiriert zu haben. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des Vergleichs mit Manets Bar in Folies-Bergère (1882): Die Barfrau, die sich offenbar in einem hinter ihr angebrachten Spiegel widerspiegelt, fixiert den Betrachter, dessen Bild ebenfalls am rechten Bildrand zurückgeworfen wird. Bei genauerer Untersuchung stellt man schnell fest, daß die beiden Spiegelungen in der rechten Bildhälfte keine präzise naturalistischen Abbildungen sind, denn das ganze Bild ist perspektivisch aufgebaut mit einem Fluchtpunkt, der etwa in dem Augenpunkt der vor uns stehenden Dame liegt. Darauf basierend müsste ihr eigenes Spiegelbild, genauso wie das des Betrachters, direkt hinter der Dame liegen. Nehmen wir aber die Spiegelung für richtig an, was auch möglich ist, so ist dies wiederum mit dem Aufbau der Perspektivkonstruktion des restlichen Bildes nicht vereinbar. Durch diese Paradoxie innerhalb des Bildes entsteht eine Irritation des Betrachters, der sich mit dem Bild auseinandersetzen muß, um Bild und Spiegelbild, um Betrachter und Betrachteten von einander unterscheiden zu können. Es ist ein Experiment mit dem Auge des Betrachters, der im Bildraum verwirrt wird. Perspektive und Rahmung spielen dabei eine wichtige Rolle.


Jeff Wall hat sich darauf beziehend ganz ähnliches in seiner Photographie Picture for Women (1979) umgesetzt. Auf der rechten Seite des durch vertikale Stangen zu einem Triptychon unterteilten Bildes ist der Künstler und Erschaffer der Fotografie zu sehen, der mit dem Auslöserkabel die in der Mitte befindliche Kamera bedient, aus deren Perspektive wir das Bild sehen. Offenbar sehen wir den Blick in einen Spiegel, in dem auch die (verglichen mit Manets Bild) aus der Mitte gerückte Frau zu sehen ist. Blickwinkel des Künstlers und Blickwinkel des Betrachters sind nun getrennt. Er wird aber durch den Künstler konstruiert, er ist der Erschaffer des Bildes. Es ist somit ein fotografische Sinnbild für Jeff Walls Selbstverständnis als Fotograf und Künstler, sowie seiner Vorstellung der Beziehung von Objekt, Künstler, Kamera und Betrachter: Im Zentrum steht nicht mehr die Frau, das Objekt, sondern die Fotografie selber.


5. Der narrative Charakter

Jeff Wall ist ein Bildererzähler, daher spreche ich vom narrativen Character seiner Bilder, am Beispiel von Eviction Struggle (1988): Der erste Blick eines Betrachters erkennt eine Landschafts­aufnahme, die sich bis zum Horizont erstreckt. Sie zeigt eine amerikanische Vorstadt mit einer breiten Straße, vereinzelt Autos und Personen, deren Blickrichtung auf das Zentrum des nachbarschaftlichen Geschehens deuten: Eine Auseinandersetzung eines Ehemannes mit zwei angerückten Polizeibeamten über, der Titel sagt es, die bevorstehende Hausräumung. In überdeutlicher Gestik ist Verzweiflung und Agression dargestellt. Das "Hineinrutschen" des Betrachters in das Bild, von dem makroskopischen Landschafts­bild zum mikroskopischen Genrebild, von dem Gesamteindruck zum Zusammenspiel von winzigen Details und seiner Komprimiertheit in der Bildmitte, erzählt die Geschichte von Vorstädten, ihren sozialen Problemen, von Einsamkeit und von aus weitem Abstand gaffenden Nachbarn, sowie vom privaten Schicksal, das hier in der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt ihren Höhepunkt findet.


Die Detailgenauigkeit und Größe des Bildes verringert den Abstand zum Betrachter, der zu Aufmerksamkeit gedrängt wird, der sich mit den dargestellten Einzelheiten beschäftigt, die Beziehungen der Objekte und Personen zueinander erkennt und sich die Geschichte des Geschehens sozusagen ausmalt. Durch die Details, entsteht eine Erzählung und durch die Beziehungen der Einzelheiten zueinander Dramatik. Ähnlich verhält es sich mit dem filmischen Charakter von Jeff Walls Bildern.

6. Der filmische Charakter

Film, Realität und Fiktion sind miteinander verwoben: Jeff Walls Fotografien, wirken wie Momentaufnahmen der Wirklichkeit, die aber inszeniert sind, und man ist verunsichert, ob es sich nun um einen Schnappschuß oder eine Inszenierung handelt. Er inszeniert Standbilder, die szenisch sind, ohne Filmstills zu sein. Im Gegensatz zu den Fotos von Cindy Sherman, sind sie nicht Teil eines fiktiven Films, sondern eher etwas, aus dem sich eine fiktive Wirklichkeit entfaltet.

In seinen Bildern wird Zeit und Raum in großer Dichte komprimiert. Der Betrachter braucht Zeit, um gewissermaßen die Stories wieder zu dekomprimieren oder zu entschlüsseln und in der Phantasie sich die Zusammenhänge und das Geschehen auszumalen.

Dabei versucht er nicht filmische Effekte in seine Fotografien einzubauen, sondern, wie er es nennt, "filmisch zu arbeiten". D.h. wie ein Filmemacher zu arbeiten, der Beleuchtung, Seitenverhältnis, Tiefenschärfe, usw. konzipiert, wirkliche oder fiktive Ereignisse simuliert oder z.B. künstliche Nachtaufnahmen inszeniert.

Am ehesten deutlich wird das bei einem Bild, das eine Außenaufnahme zu zeigen scheint, die in Wahrheit im Studio aufgenommen wurde, um die genannten Faktoren kontrollieren und simulieren zu können: Dead Troops Talk (1992). Auf einem sandigen Hang liegen Soldaten gruppiert, teils tot, teils blutverschmiert im Sterben. Verstreute Waffen, abgerutschtes Geröll und Lachen von Blut zeugen von einem vorausgegangenen Kampf. Der Schrecken auf den Gesichtern der Männer, die toten Körper und die Zerstörung um sie herum zeigt die Unmenschlichkeit, zu der Menschen fähig sind und macht dieses Bild zu einem Antikriegsmonument.


Wall und seine Mitarbeiter konstruierten im Studio einen Hügel, nahmen jede Gruppe von Soldaten getrennt auf und setzten sie digital zum diesem Monumental-Kriegsbild zusammen. So wie hier benutzt Wall seit den 90er Jahren Computer, als Instrument zu Bildveränderung, um das Bild effektiv nach seinen Vorstellungen bestimmen zu können. Aber er stellt mit dem digitalen Hilfsmittel nur das dar, was in der Realität möglich ist. Anders als heute noch in Hollywoodfilmen, benutzt er solche Spezialeffekte nicht, um uns mit den Möglichkeiten dieser Technik zu beeindrucken, sondern als eine andere Technik des Bildermachens.

Zitat Jeff Wall, 1994:

One paradox I have found is that the more you use computers in picture-making, the more 'hand-made' the picture becomes.

Diese Kontrolle über die Bildinhalte rückt die Fotografie sowohl näher an die Malerei, als auch an den Film heran - eben auch in der Produktion. Dazu gehört auch die Aufgabenverteilung in der Produktion, d.h. Jeff Wall ist nicht mehr unbedingt am Auslöser der Kamera, sondern hat einen Kameramann angestellt, der nach seinen Anweisungen arbeitet.

Eigentlich sind wir mit solche Arbeits- und Darstellungsweisen durch das Kino vertraut. Im Foto erscheint dies uns aber als ungewohnt.

7. Schlußresümee

Das besondere an Jeff Walls Werk ist, daß er sich nicht abgrenzt von den anderen Medien, sondern er übergreift vielmehr diese Grenzen, auch zum Theater und zur Skulptur. Er ergreift Partei für die Fotografie gegenüber der Malerei und dem Film und wertet sie auf als künstlerisches Medium.

Seine Landschaftsaufnahmen, Fotografien von Alltagsszenen und modernen Genre­dar­stellungen sind keine journalistischen Fotos, sondern Imitationen einer Wirklichkeit. Diese benötigen immer eine vorherige Konzeption und bringen Wall somit der Concept-Art nahe. Damit ist der Künstler im Bild anwesend. Und anders als die Piktoralisten im 19. Jahrhundert, versucht er malerisch zu sein, ohne nur oberflächliche malerische Effekte nach­zuahmen (ver­schwommene Bild­schärfe usw.), sondern an die bildnerische Kraft der Malerei mit den Mitteln der Fotografie heranzukommen. Diese sind: Wahl des Ortes, Blickwinkel und Beleuchtung.

Damit gibt er der Fotografie auch wieder etwas von ihrer Aura zurück, die Walter Benjamin verloren sah. Dies geschieht u.a. durch die leuchtende, durch gedruckte Reproduktion nicht duplizierbare Präsentation in Leuchtkästen. "Glowing produces aura".

Somit treibt Jeff Wall den Verdrängungsdruck, den die Fotografie auf die Malerei ausübt, so weit, wie es Baudelaire befürchtet hat. Das Imaginäre ist nun auch in der Fotografie angekommen und fordert die Malerei zu einer Verteidigungsstrategie heraus. Auf die Gegen­reaktion, etwa in Form einer filmisch werdenden Malerei, ist das Publikum gespannt.

8. Bibliographie (klick)

Weitere Literatur über Jeff Wall


© H. Klinke 2001


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